Gedanken zur artgerechten Haltung von Britta Reiland
Was denkt ihr?
Reicht das wissen, um eine artgerechte Pferdehaltung aus, um einen guten Platz für sein Pferd zu finden? Und welche individuellen Besonderheiten können erheblichen Einfluss auf die Anforderungen nehmen? Was davon ist “menschlich” und was tatsächlich “pferdisch” gedacht?
Seit vier Jahren lebt unser Pferd gemeinsam in einer Selbstversorger Stallgemeinschaft mit vier weiteren Pferden in einer gemischten Box und Paddockhaltung. Nun ist es aus vielen persönlichen Gründen an der Zeit sich zu verändern. 5 Pferde mit insgesamt 8 dazu gehörigen Erwachsenen schmeissen ihre Ideale in einen Topf und versuchen den bestmöglichen Platz für alle zu finden.
Es ist unglaublich, was da zusammen kommt:
Ganz bewusst lasse ich zunächst alle Besonderheiten der einzelnen Pferde weg und schildere mal die Grundbedingungen, die wir uns wünschen:
wir möchten, dass unsere Pferde nicht in einer Innenbox stehen
wir möchten, dass unsere Pferde möglichst viel Bewegungsmöglichkeiten haben
wir möchten, dass unsere Pferde Kontakt zu Artgenossen haben
24 Stunden “fette” Wiese halten wir für nicht angebracht, teils sogar gesundheitlichsschädlich, aber wir wollen täglich Weide
wir möchten Bodenuntergründe, die unseren Barhufern Abwechslung und Hufgesundheit versprechen
wir möchten ganzjährig Raufutter
wir möchten mehrmals täglich bis ganztägig Zugang zu GUTEM Heu
wir möchten tägliches Misten und Abäppeln
wir möchten individuelle Futterauswahl
wir möchten Menschen, denen wir unser Pferd gerne Anvertrauen
Nun nehmen wir mal Alltagsbedingungen hinzu, die das ganze mit beeinflussen:
wir möchten nicht mehrmals täglich zum Füttern kommen
wir möchten Platz für unsere Kinder haben
wir möchten, dass unsere gut erzogenen Hunde uns begleiten dürfen
wir möchten so nah wohnen, dass wir auch täglich zu unseren Pferden fahren können
wir müssen dies von unseren Einkommen auch bezahlen können
wir möchten freie Tierarzt, therapeuten und Hufpflegeauswahl
wir möchten ein pferdegerechtes Ausreitgelände, Möglichkeiten gesund zu Reiten und gymnastierende Boden- und Longenarbeit zu machen
wir möchten selber entscheiden, welche “lehrer” wir dazu an unsere Seite holen
wir möchten auf alternative Heilmethoden (Physiotherapie, Osteopathie, Akupunktur…) nicht verzichten müssen
Und nun nehmen wir die Besonderheiten unserer Pferde ( die meisten haben mehrere auf einmal – es bleibt bei insegesamt 5 Pferden) hinzu:
zwei Pferde hatten bereits Kolikoperationen und Reheschübe : Weide nur sehr eingeschränkt möglich, aber keine leeren Mägen durch lange Futterpausen
zwei Pferde sind schon sehr alt (empfindlicher gegen Witterungseinflüsse und Stress)
zwei Pferde haben Probleme mit ihren Atemwegen (kein Stroh, ausreichend Luft)
ein Pferd hat Spat (ausreichend Bewegung)
eines hat bereits zwei Sehnenanrissse auskuriert (keine tiefen rutschigen Untergründe)
eins neigt zu Mauke (keine Matsche)
zwei haben immer wieder Probleme mit ihren Zähnen ( fressen langsamer, brauchen mehr Zeit)
zwei hatten schon Magengeschwüre
eins hat Arthrose
eines sieht nicht mehr ganz so gut
eines hat immer wieder Kotwasserprobleme
Und jetzt noch die Bedenken der Besitzer:
“Mein Pferd hat grosse Probleme, wenn es nicht genügend Abstand zu den anderen hat”
“Mein Pferd braucht einen Platz, wo es sich ungestört ausruhen kann”
“Mein Pferd ist zu alt um sich in einer neuen Herde den Auseinandersetzungen zu stellen”
“Mein Pferd frisst zu viel und wird schnell fett”
“Mein Pferd hat noch nie in einer Herde gestanden”
“Mein Pferd verträgt keinen starken Wind”
“Was ist,wenn mein Pferd nachts eine Kolik hat und keiner merkt es, weil es auf der Weide steht?”
“Mein Pferd benötigt immer wieder eine Decke, weil es wegen seines Alters nicht mehr mit allen Witterungen zurecht kommt”
“Mein Pferd schlingt, wenn andere neben ihm fressen”
“Mein Pferd wird vielleicht getreten und ernsthaft verletzt, weil es nicht mehr so wendig ist”
“Mein Pferd wird vielleicht (zu Beginn) gejagt undder Kreislauf überlastet”
“Schafft mein Pferd komplikationslos einen Stallwechsel und bewältigt ohne Schaden diesen Stress?”
Ich rede hier also nicht von Pferden, die das Glück hatten ein Leben lang in einer gesunden Herdenhaltung, auf geeigneten Bodenuntergründen mit besten Futter- und Haltungsbedingungen aufzuwachsen. Ich rede von Pferden, die schon viele Jahre hinter sich haben und etliche Blessuren und Alterserscheinungen mitbringen.
Und nun stelle ich mal die Frage in den Raum: Was bedeutet artgerechte Pferdehaltung? Wie sehr kann man dies Verallgemeinern? Wie sehr nehmen individuelle Besonderheiten Einfluss auf die Beantwortung dieser Frage?
Ich würde mich freuen, wenn ganz viele darüber nachdenken würden und ihre Meinungen hier auch veröffentlichen würden! Ich glaube, dass es sehr spannend wird, was wir auf diesem Wege zusammentragen werden. In meiner therapeutischen Arbeit stehe ich jeden Mal vor der Aufgabe, aus dem Moment heraus zu enstcheiden, was mein Patient jetzt und in Zukunft an Hilfe und Unterstützung benötigt und muss mich immer von Verallgemeinerungen trennen und individuell auf die Bedürfnisse der Einzelnen und deren Lebensbedingungen angepasst reagieren und behandeln. Kann man artgerechte Pferdehaltung verallgemeinern? Gibt es Bedingungen die wirklich für alle domestizierten Pferde gelten?
Ich freue mich auf Eure Gedanken!
Liebe Grüße
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